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Wie unsere Wahrnehmung unsere Realität formt

Stell dir vor, eine Gruppe von Blinden wird zu einem Elefanten geführt. Jeder von ihnen berührt nur einen Teil des Tieres – das Bein, den Rüssel, das Ohr oder den Schwanz – und bildet sich basierend auf diesem begrenzten Eindruck eine Vorstellung davon, was ein Elefant ist. Der, der das Bein berührt, glaubt, der Elefant sei wie ein Baumstamm. Der, der den Rüssel spürt, ist überzeugt, dass ein Elefant wie ein langer, flexibler Schlauch ist. Und so weiter.


Jeder von ihnen hat eine andere, fragmentierte Vorstellung, und trotzdem sind sie alle davon überzeugt, dass ihre Wahrnehmung die „Wahrheit“ ist. Doch die Realität des Elefanten ist viel komplexer, als es jeder einzelne Blinde begreifen kann – ihre Perspektiven sind nur Teile eines viel grösseren Ganzen.


Diese Geschichte stammt ursprünglich aus der indischen Philosophie und wird oft verwendet, um zu veranschaulichen, wie Menschen die Welt durch ihre begrenzten Perspektiven wahrnehmen. Sie ist eine kraftvolle Metapher, die nicht nur in der spirituellen und philosophischen Tradition eine Rolle spielt, sondern auch in der Psychologie tiefgehende Einsichten bietet. Als jemand, der gerne Brücken zwischen philosophischen und psychologischen Themen schlägt, finde ich diese Parabel eine wunderbare Möglichkeit, um in die psychologischen Konzepte der privaten Logik und der tendenziösen Apperzeption nach Alfred Adler einzutauchen.


In Adlers Psychologie beschreibt die private Logik das individuelle System von Überzeugungen und Annahmen, das jeder von uns entwickelt, um die Welt zu verstehen und zu handeln. Diese private Logik entsteht oft in der Kindheit und wird durch unsere Erlebnisse, Beziehungen und die Art und Weise, wie wir die Welt interpretieren, geprägt. Sie hilft uns, uns in der Welt zurechtzufinden, kann aber auch dazu führen, dass wir die Realität verzerrt wahrnehmen und in bestimmten Denk- und Handlungsmustern gefangen sind.


Was bedeutet das für uns?

Wie die Blinden, die nur einen Teil des Elefanten wahrnehmen, so sehen auch wir oft nur einen Teil der Wahrheit. Wir interpretieren Situationen aus unserer eigenen Perspektive und glauben, dass diese Interpretation die ganze Wahrheit ist. Diese Tendenz, die Welt aus unserer subjektiven Sicht zu filtern, nennt Adler „tendenziöse Apperzeption“. Es bedeutet, dass wir Informationen auswählen, die unsere bestehenden Überzeugungen und Erfahrungen bestätigen, während wir Informationen, die diese herausfordern, oft ignorieren oder verzerren.


Die tendenziöse Apperzeption beeinflusst stark, wie wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen. Es führt dazu, dass wir oft in einem eingeschränkten Wahrnehmungsrahmen leben, ohne uns der grösseren, umfassenderen Wahrheit bewusst zu sein. Dieser Filter verzerrt nicht nur unsere Interpretation der Realität, sondern beeinflusst auch unsere Reaktionen, Entscheidungen und Handlungen.


Ein Beispiel: Stell dir vor, du hast in deiner Kindheit die Erfahrung gemacht, dass du oft übersehen oder nicht beachtet wurdest. Diese Erfahrung kann dazu führen, dass du als Erwachsener in sozialen oder beruflichen Situationen immer wieder das Gefühl hast, unsichtbar zu sein oder dass du nicht die Aufmerksamkeit bekommst, die du verdienst. Diese Wahrnehmung ist eine direkte Folge deiner „privaten Logik“ – deiner individuellen Überzeugung, dass du nicht gesehen wirst. Auch wenn die Realität dir andere Hinweise gibt, wird deine Wahrnehmung und dein Verhalten weiterhin von diesem inneren Glauben beeinflusst.


Wie die private Logik unsere Realität beeinflusst

Die private Logik ist das „innere Programm“, das wir in uns tragen und das unsere Wahrnehmung, unsere Entscheidungen und unser Verhalten steuert. Diese Logik ist oft nicht bewusst, sondern läuft im Hintergrund ab und bestimmt, wie wir auf Situationen reagieren. In Adlers Theorie ist diese private Logik nicht immer rational oder förderlich für unser Wohlbefinden. Sie kann durch frühe Erfahrungen, Missverständnisse und ungünstige Annahmen geprägt sein.


Wenn wir uns der privaten Logik bewusst werden, können wir beginnen, sie zu hinterfragen und zu erkennen, wie sie unsere Wahrnehmung der Realität verzerrt. Oft sind wir uns dieser Denkmuster gar nicht bewusst, und sie beeinflussen unser Verhalten auf eine Weise, die uns nicht weiterhilft. Der erste Schritt zur Veränderung ist daher die Reflexion: Wir müssen uns fragen: Was glaube ich wirklich über mich und die Welt? Warum reagiere ich in bestimmten Situationen so, wie ich es tue?


Der Weg zur Veränderung: Bewusste Reflexion und Achtsamkeit

Die gute Nachricht ist, dass wir die Möglichkeit haben, unsere private Logik zu überdenken und zu verändern. Der Schlüssel liegt in der bewussten Reflexion und der Entwicklung einer offenen Haltung. Wenn wir anfangen, unsere Denkmuster zu beobachten und zu hinterfragen, können wir die verzerrte Wahrnehmung erkennen und alternative Perspektiven einnehmen. Das ist der erste Schritt, um unsere private Logik so zu verändern, dass sie uns nicht mehr in falsche Wahrnehmungen und Verhaltensweisen führt.


Ein kraftvolles Werkzeug, um diese Veränderung zu fördern, ist Achtsamkeit. Achtsamkeit hilft uns, im Moment präsent zu sein und unsere Gedanken ohne Urteil zu beobachten. Indem wir lernen, uns von unseren automatischen Denkmustern zu distanzieren, können wir die Wahrnehmung des „Elefanten“ erweitern und einen umfassenderen Blick auf die Realität entwickeln.


Die Erweiterung unserer Wahrnehmung

Die Geschichte der Blinden und dem Elefanten erinnert uns daran, dass unsere Wahrnehmung nie die ganze Wahrheit widerspiegelt. Wir sehen die Welt durch unsere eigene, oft eingeschränkte Perspektive. Doch wenn wir uns bewusst mit unserer privaten Logik und den tendenziösen Apperzeptionen auseinandersetzen, können wir unsere Wahrnehmung erweitern und die Welt in ihrer vollen Tiefe erkennen.


Indem wir lernen, unsere Denkmuster zu reflektieren und unsere Filter zu hinterfragen, können wir ein klareres Bild der Realität gewinnen und Entscheidungen treffen, die uns ein erfüllteres und authentischeres Leben ermöglichen. Letztlich geht es darum, unsere Sichtweisen zu erweitern – wie die Blinden, die ihre Perspektive auf den Elefanten erweitern könnten, wenn sie die Möglichkeit hätten, mehr zu sehen.

 
 
 

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