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Hochsensibilität in einer neurodiversen Welt verstehen

Warum wir das Konzept der Hochsensibilität ernst nehmen – und differenziert betrachten sollten


Hochsensibilität ist längst aus der Nische herausgewachsen. In Social Media, Ratgebern und Podcasts begegnet uns das Thema immer öfter – oft mit einem zarten Hauch von Mystik und einem Versprechen von „Andersartigkeit“. Doch zwischen Instagram-Selbsttests und wissenschaftlicher Forschung zur sensorischen Reizverarbeitung liegt eine grosse Grauzone.

Während viele Menschen sich in dem Begriff wiederfinden, bleibt die Frage: Was sagt die Wissenschaft wirklich? Und warum ist es wichtig, Hochsensibilität jenseits von Klischees und Etiketten zu verstehen?


Zeit also, den Nebel zu lichten – mit Fakten, Kontext und einem Schuss Well-being Rebel Realness.


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Was Hochsensibilität wirklich ist

Der Begriff Highly Sensitive Person (HSP) stammt aus den 1990ern von der Psychologin Elaine N. Aron. Sie prägte ihn, um Menschen zu beschreiben, die stärker auf Sinnesreize, Emotionen und soziale Signale reagieren – und diese intensiver verarbeiten.


In der Wissenschaft spricht man von Sensory Processing Sensitivity (SPS) – einem Persönlichkeitsmerkmal, keinem Krankheitsbild. Etwa 15–20 % der Menschen zeigen eine hohe Ausprägung dieser Sensitivität. Diese Quote ist stabil über Kulturen hinweg – und wurde auch bei über 100 Tierarten nachgewiesen, was auf eine evolutionäre Bedeutung hindeutet: Man geht heute davon aus, dass hochsensible Individuen subtile Gefahren oder Stimmungen früher wahrnehmen und zum sozialen Gleichgewicht beitragen.


Die Forschung identifiziert vier Hauptmerkmale:


  • Tiefe Verarbeitung: Informationen werden gründlicher analysiert und emotional verknüpft.

  • Starke emotionale Resonanz: Freude, Mitgefühl, aber auch Stress oder Trauer werden intensiver erlebt.

  • Sensibilität für subtile Reize: Geräusche, Licht, Stimmungen – alles kommt etwas „lauter“ an.

  • Überstimulation: Wenn zu viele Eindrücke gleichzeitig eintreffen, ist das Nervensystem schneller erschöpft.


Kurz gesagt: Hochsensible Menschen nehmen nicht unbedingt mehr, sondern tiefer wahr.


Zwischen Wissenschaft und Selbstzuschreibung

Hochsensibilität ist kein klinischer Begriff – sie taucht in keinem offiziellen Diagnosesystem wie dem ICD oder DSM auf. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie „nicht existiert“. Es heisst lediglich: Hochsensibilität ist kein Krankheitsbild, das behandelt werden muss, sondern ein Persönlichkeits- bzw. Temperamentsmerkmal, das verstanden und berücksichtigt werden sollte.


Die Herausforderung liegt darin, dass die gängigsten Messinstrumente – wie etwa die Highly Sensitive Person Scale (HSPS), entwickelt von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron – auf Selbstauskunft basieren. Das heisst, sie erfassen individuelle Wahrnehmung und Einschätzung, was naturgemäss Interpretationsspielraum lässt.

Und ja, es gibt Überschneidungen zu anderen neurobiologischen Profilen, etwa zu ADHS oder Autismus. Manche Merkmale – wie eine erhöhte Reizoffenheit oder ein intensives emotionales Erleben – können ähnlich wirken, haben aber unterschiedliche Ursachen.


Spannend ist, dass neurowissenschaftliche Studien tatsächlich spezifische Aktivierungsmuster im Gehirn hochsensibler Personen zeigen: Besonders häufig sind stärkere Reaktionen in der Insula (zuständig für Selbstwahrnehmung, Empathie und emotionale Integration) sowie im Spiegelneuronensystem zu beobachten – also in jenen Arealen, die mit Einfühlungsvermögen und sozialem Verstehen in Verbindung stehen.


Das spricht dafür, dass das sogenannte Sensory Processing Sensitivity (SPS)-Konstrukt – also das wissenschaftliche Modell hinter dem Begriff „Hochsensibilität“ – ein eigenständiges neurobiologisches Profil beschreibt. Kein Ersatz oder Synonym für ADHS oder Autismus, sondern eine weitere Variante menschlicher Reizverarbeitung – und damit Teil der natürlichen Vielfalt, wie Menschen fühlen, denken und reagieren.


Die doppelte Kante der Sensitivität

Menschen mit hoher Sensitivität haben kein „zu empfindliches“ Nervensystem – sondern ein reaktiveres. Ihr Gehirn verarbeitet Reize gründlicher und emotional intensiver. Das kann – je nach Umfeld – zur Belastung oder zur Stärke werden. Forschung zeigt: In stressreichen, feindseligen oder lauten Umgebungen reagieren hochsensible Menschen stärker mit Erschöpfung, Reizüberflutung oder Angstzuständen. In unterstützenden, wertschätzenden Kontexten hingegen zeigen sie häufig überdurchschnittliche Kreativität, Empathie, Verantwortungsbewusstsein und Sinnorientierung.


Oder wie es der Psychologe Michael Pluess formulierte:

Hochsensible Menschen blühen in unterstützenden Umgebungen schneller auf – und verwelken schneller in feindlichen.

Diese Idee nennt sich Differential Susceptibility Theory – zu Deutsch etwa Theorie der differenziellen Anfälligkeit. Sie beschreibt Hochsensibilität als eine Art Verstärker des Umfelds: Positives wirkt stärker, Negatives ebenso. Studien (u. a. Pluess & Belsky, 2013) belegen, dass Menschen mit erhöhter Sensitivität besonders empfänglich für Umwelteinflüsse sind – zum Guten wie zum Schlechten.


Hochsensibilität im Kontext der Neurodiversität

Im modernen Neurodiversitätsdiskurs wird Hochsensibilität zunehmend als Teil eines natürlichen Spektrums menschlicher Reizverarbeitung verstanden. Menschen unterscheiden sich darin, wie intensiv sie sensorische, emotionale oder soziale Reize wahrnehmen und verarbeiten – und diese Vielfalt ist nicht pathologisch, sondern Teil menschlicher Normalität.


Hochsensibilität als Teil des neurodiversen Spektrums zu verstehen, kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Während einige Forschungsansätze sie als Variante menschlicher Reizverarbeitung einordnen, sehen andere darin eher ein Temperamentsmerkmal innerhalb des „normalen“ Spektrums.


Eher dafür spricht:

  • Ähnliche Muster sensorischer Überforderung und sozialer Ermüdung wie bei ADHS oder Autismus.

  • Ein häufig berichtetes Gefühl von „Andersartigkeit“ und erhöhter Reizoffenheit, wodurch alltägliche Anpassungsprozesse oft mehr Energie und Flexibilität erfordern als bei weniger sensiblen oder neurotypischen Personen.

  • Wie auch bei anderen neurodiversen Profilen liegt der Fokus zunehmend auf Stärken statt Defiziten, also auf Ressourcen wie Resilienz, Empathie und Kreativität.


Eher dagegen spricht:

  • Es gibt bisher keine klar definierten neurologischen Marker, die Sensory Processing Sensitivity (SPS) eindeutig von anderen neurobiologischen Profilen abgrenzen.

  • Sensibilität liegt auf einem Kontinuum – sie ist keine „andere Verdrahtung“, sondern eine natürliche Variation innerhalb menschlicher Neurobiologie.


Der sinnvollste Ansatz ist ein integrativer: Hochsensibilität gehört zu unserer neurodiversen Realität – auch wenn sie keine formale Diagnose ist. Es geht nicht um Etiketten, sondern um Verständnis: Wie gestalten wir Systeme, in denen sensible Nervensysteme gesund funktionieren können?


Warum es sich lohnt, darüber zu sprechen


1. Selbstverständnis statt Selbstpathologisierung

Für viele ist das Label „hochsensibel“ kein Etikett, sondern ein Schlüssel. Ein Weg, sich selbst mit mehr Mitgefühl zu sehen – und nicht länger als „zu empfindlich“, „nicht belastbar genug“ oder schlichtweg als "nicht in die Gesellschaft passend".


2. Psychische Gesundheit & Prävention

Hochsensible Menschen reagieren nachweislich stärker auf Dauerstress. Das macht präventive Strategien wie Achtsamkeit, Pausen, Grenzen und Psychoedukation besonders wertvoll und wichtig – nicht, um sie „härter“ zu machen, sondern um Ressourcen zur Hand zu haben, die das Nervensystem zu entlasten.


3. Arbeitsplatz & Gesellschaft

Ein mental gesundes Arbeitsumfeld berücksichtigt sensorische Vielfalt: Licht, Geräuschpegel, Kommunikationsstil, Pausenkultur. Was sensiblen Menschen guttut, stärkt letztlich alle – und macht Organisationen resilienter.


4. Forschung & Aufklärung

Je differenzierter wir über Hochsensibilität sprechen, desto klarer trennen wir wissenschaftliche Evidenz von romantisierter Selbstdarstellung – und rücken das Thema dorthin, wo es hingehört: in die Mitte eines modernen Verständnisses von Neurodiversität und mentaler Gesundheit.


Fazit: Kein Hype – sondern menschliche Vielfalt

Vielleicht geht es am Ende gar nicht darum, ob Hochsensibilität eine Diagnose, ein Persönlichkeitsmerkmal oder eine Form der Neurodivergenz ist. Sondern darum, anzuerkennen, dass Menschen unterschiedlich intensiv fühlen, denken und wahrnehmen – und dass diese Vielfalt uns reicher macht. Eine gesunde Gesellschaft braucht alle Nervensysteme:die robusten, die reflektierenden, die feinen, die wilden.


Genausowenig wie ADHS oder Autismus, ist auch Hochsensibilität kein Trend, keine Schwäche, kein Stempel. Sie ist ein realer, erforschter Teil menschlicher Diversität –und vielleicht genau das, was unsere überreizte Welt braucht, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.


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Quellen & aktuelle Forschung (Auswahl):

  • Aron, E. & Aron, A. (1997). Sensory Processing Sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology.

  • Greven, C. et al. (2019). Sensory Processing Sensitivity: Theory, measurement and implications. Personality and Individual Differences.

  • Lionetti, F., Aron, E. et al. (2023). Environmental Sensitivity in the context of differential susceptibility. Developmental Psychology.

  • Frontiers in Psychology (2025). Flourishing as a Highly Sensitive Person: A mixed-methods study.

  • Nature (2025). The relationship between sensory processing sensitivity and loneliness.

  • Sensitivity Research Institute (2025). Sensitivity, stress and wellbeing: A systematic review.

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