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Jenseits von Kampf oder Flucht: Die Enttarnung einer verborgenen Stressreaktion

Autorenbild: Nicole ArdinNicole Ardin

Inzwischen sind die meisten von uns mit den klassischen Stressreaktionen vertraut: Kampf, Flucht und Erstarren. Sie wurden in der Psychologie, in Selbsthilfebüchern und sogar in der Popkultur erörtert. Aber die Geschichte hat noch mehr zu bieten. Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass es eine weniger bekannte vierte Reaktion gibt, die tiefere Einblicke in dein Verhalten geben könnte? Das ist die "Kitz-Reaktion", engl. fawn response (auch Rehkitz-Reaktion oder "Unterwürfigkeit" genannt) - ein Überlebensmechanismus, der auf Beschwichtigung und Beziehungsdynamik beruht.


Dieser Artikel ist nicht nur eine weitere Aufschlüsselung der Stressreaktionen, von denen du schon gehört hast. Es ist eine Erkundung, wie sich diese instinktiven Reaktionen in unserem modernen Leben manifestieren, mit besonderem Augenmerk auf die Kitz-Reaktion, deren Übersetzung aus dem englischen ich übrigens furchtbar finde, weshalb ich die Reaktion in diesem Artikel Als "Fawn-Reaktion" bezeichnen werde. Als Beraterin finde ich dieses Thema nicht nur faszinierend, sondern auch äußerst relevant für alle, die sich selbst besser verstehen wollen.



Das klassische Trio: Kampf, Flucht und Erstarren


  1. Kampf: Diese Reaktion treibt uns dazu, uns einer Bedrohung zu stellen. Sie kann in Form von Wut, Durchsetzungsvermögen oder Verteidigungsmaßnahmen auftreten. Sie kann zwar ermutigend sein, aber die Kampfreaktion ist nicht immer angemessen und kann manchmal Konflikte eskalieren lassen..


    Beispiele:

    • In einer angespannten Sitzung für sich selbst eintstehen.

    • Sich bei einer Meinungsverschiedenheit durchsetzen.


  2. Flucht: Bei der Fluchtreaktion geht es darum, einer Gefahr zu entkommen, sei es auf körperlicher oder emotionaler Ebene. Sie kann uns helfen, schädliche Situationen zu vermeiden, kann uns aber auch davon abhalten, uns mit den zugrunde liegenden Problemen auseinanderzusetzen


    Beispiele::

    • Verlassen einer toxischen Umgebung

    • Sich aus belastenden Gesprächen zurückziehen


  3. Erstarren: Manchmal schalten unser Körper und unser Geist unter Stress ab, so dass wir uns festgefahren oder abgeschnitten fühlen. Das kann ein Schutzmechanismus sein, aber er macht uns oft handlungsunfähig.


    Beispiele::

    • Das Gefühl, in einem hitzigen Streit nicht reagieren zu können

    • Geistig „abschalten“, wenn man überfordert ist


Die Fawn-Reaktion: Wenn Überleben gleichbedeutend mit Beschwichtigung ist


Die Fawn-Reaktion ist anders. Es ist der Instinkt, andere zu beschwichtigen, um Konflikte zu entschärfen oder Sicherheit zu gewährleisten, oft auf Kosten unserer eigenen Bedürfnisse. Sie wird zwar häufig mit Menschen in Verbindung gebracht, die ein Beziehungstrauma erlebt haben, doch kann sich diese Reaktion auch in anderen Umgebungen entwickeln. So können beispielsweise Menschen, die in einem liebevollen, aber stark strukturierten Elternhaus aufgewachsen sind oder die unter dem Druck standen, Frieden stiften zu müssen, diese Art Stressreaktion entwickeln.


Wie die Fawn-Reaktion im Alltag aussieht:


  • Anderen ständig zustimmen, um Spannungen zu vermeiden

  • Die Bedürfnisse der anderen in den Vordergrund stellen und die eigenen ignorieren

  • Sich schuldig fühlen, wenn man auch nur die kleinsten Grenzen setzt

  • Sich übermäßig entschuldigen oder die Verantwortung für Dinge übernehmen, auf die Sie keinen Einfluss haben



Warum die Annerkennung der Fawn-Reaktion wichtig ist


Auf den ersten Blick mag das Fawn-Reaktion wie Freundlichkeit oder Empathie wirken. Doch wenn es aus Angst heraus entsteht, kostet es uns oft viel – innere Unzufriedenheit, Erschöpfung und das Gefühl, den Kontakt zu uns selbst zu verlieren. Aber hier liegt auch die Chance: Dieses Verhalten zu verstehen, kann ein echter Wendepunkt sein. Es ist der erste Schritt, um die eigene innere Stärke wiederzufinden und Beziehungen zu gestalten, die auf gegenseitigem Respekt und Authentizität basieren.


Für mich persönlich war es unglaublich befreiend, meine eigenen Momente des Fawn-Verhaltens zu erkennen. Dadurch konnte ich reflektieren, warum ich manchmal übermäßig oft um Entschuldigung bitte oder zögere, meine wahren Gefühle zu zeigen. Dieses Bewusstsein hat mir gezeigt, dass ich neue, gesündere Wege gehen kann – Wege, die mich stärken und mir erlauben, ganz ich selbst zu sein.


Befreiung von der Fawn-Reaktion


Wenn du dich mit der Fawn-Reaktion identifizieren kannst, solltest du wissen, dass es eine erlernte Reaktion ist - und das bedeutet, dass sie ebenso wieder verlernt werden kann. Hier sind einige Strategien, die dabei helfen:


  1. Beginne mit Achtsamkeit: Beginne festzustellen, wenn du den Bedürfnissen anderer Vorrang vor deinen eigenen gibst. Frage dich selbst: Mache ich das aus echter Sorge oder aus Angst?

  2. Lerne schrittweise gesunde Grenzen zu setzen: Grenzen müssen nicht unbedingt drastisch sein. Fange klein an, z. B. mit einem Nein, wo du, um andren zu gefallen, eher ein Ja antworten würdest, oder mit der Äußerung einer abweichenden Meinung in einem für dich sicheren Rahmen.

  3. Hole dir Unterstützung: Eine Beratung oder Therapie kann ein sicherer Ort sein, um die Ursprünge der Fawn-Reaktion zu erforschen und neue Reaktionen zu üben. Traumainformierte Ansätze wie EMDR oder somatisches Erleben können hier besonders hilfreich sein, aber auch achtsame Stressbewältigung ist hier ein grosses Thema, das dich wunderbar unterstützen kann.

  4. Übe dich in Selbstmitgefühl: Erinnere dich daran, dass die Fawn-Reaktion als Überlebensmechanismus entstanden ist. Unser Hirn hat manchmal Mühe, echte Gefahr von oft geübten Katastrophen-Situationen unsere Gedanken zu unterscheiden. Das heisst, du wirst auf deinem Weg bestimmt wieder Momente erleben, in denen du automatisch in deine alten Muster zurückfällst. Das gehört zum Prozess dazu. Wichtig ist, dass du es merkst und dir dabei selbst selbst mit Freundlichkeit begegnest, während du daran arbeitest, deine alten Mechanismen zu verlernen.


Schreibe deine Stressgeschichte neu!


Beim Verstehen der Stressreaktionen vier Stressreaktionen geht es nicht darum, sich selbst in eine Schublade zu stecken. Es geht darum, sich selbst die Werkzeuge an die Hand zu geben, um auf die Herausforderungen des Lebens auf eine Art und Weise zu reagieren, die sich authentisch und ermutigend anfühlt. Jede Reaktion hat ihre Wurzeln im Wunsch zu Überleben und ist ganz natürlich, aber mit Bewusstsein und Unterstützung können wir lernen zu wählen, wie wir reagieren und somit auch unser Wohlbefinden bewusst mit beeinflussen.


Wenn du jemals das Gefühl hattest, dass deine Stimme darin untergeht, andere zu beschwichtigen, dann mache dir bewusst, dass du nicht alleine damit bist. Das Erkennen dieses Musters ist ein mutiger erster Schritt, und eine Veränderung ist möglich. Indem du Grenzen setzt, Unterstützung suchst und sich in Selbstmitgefühl übst, kannst aus dem Überlebensmodus in einen blühenden Zustand wechseln.


Lass uns gemeinsam unsere Stressgeschichten neu schreiben, einen Schritt nach dem anderen. Gerne würde ich deine Meinung dazu hören - wie stehst du zu deinen Stress-Reaktionen ? Und welche Schritte hast du schon unternommen, um deine Kraft zurückzugewinnen?

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