Emotionale Verantwortung in Beziehungen: Warum gesunde Grenzen nicht bedeuten, Gefühle anderer zu entwerten
- Nicole Ardin
- 4. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Wir alle haben es schon gehört – oder vielleicht sogar selbst gesagt:
„Ich bin nicht verantwortlich für deine Gefühle. Du bist getriggert, das ist dein Thema.“
Auf den ersten Blick klingt das gesund. Schliesslich sollte niemand für die Emotionen anderer verantwortlich gemacht werden.Doch hier liegt der Knackpunkt: Wenn wir den Einfluss unseres Verhaltens abstreiten und sagen „Ich bin nicht verantwortlich für deine Emotionen“, kann das schnell toxisch werden. Denn so vermeiden wir echte Auseinandersetzung – und diese emotionale Abwehr kann sich anfühlen wie eine subtile Form von Gaslighting.

Emotionen, Wirkung und Verantwortung
Aus psychologischer Sicht entstehen Emotionen zwar in unserem Inneren, werden aber stark durch unser Umfeld beeinflusst (James-Lange, Schachter-Singer). In der beratenden Psychologie gilt: Jede Person ist dafür verantwortlich, wie sie mit ihren eigenen Gefühlen umgeht – gleichzeitig dürfen wiederkehrende Beziehungsmuster, in denen das Verhalten einer Person regelmässig Stress oder Schmerz bei einer anderen auslöst, nicht übersehen werden.
In der Praxis bedeutet das:
Du kannst niemanden zwingen, sich verletzt zu fühlen.
Aber du kannst anerkennen, wenn dein Verhalten Schmerz verursacht hat.
Verantwortung heisst, über das eigene Verhalten und dessen Wirkung nachzudenken – nicht, die Emotionen anderer zu übernehmen.
Übrigens: Im Alltag sagen wir oft, wir seien „getriggert“. Ursprünglich stammt der Begriff jedoch aus der Traumapsychologie und beschreibt einen Reiz, der eine intensive emotionale Reaktion hervorruft – meist, weil er mit früheren, unverarbeiteten Erfahrungen verknüpft ist.
In zwischenmenschlichen Beziehungen geht es dabei meist weniger um Traumata, sondern um emotionale Verletzungen oder alte Reaktionsmuster, die durch das Verhalten des Gegenübers aktiviert werden. Da der Begriff „Trigger“ inzwischen Teil unserer Alltagssprache geworden ist, verwende ich ihn im Folgenden in diesem erweiterten, alltagstauglichen Sinn.
Interdependenz: Die Wellenwirkung unseres Verhaltens
Die Familientheorie nach Bowen (1978) erinnert uns daran, dass Beziehungen Systeme sind. Handlungen stehen immer in Wechselwirkung – was eine Person tut, beeinflusst die andere.In Paar- oder Gruppentherapien zeigt sich das besonders deutlich: Wenn ein Mensch im Konflikt eskaliert, wird die andere Person fast immer reagieren – bewusst oder unbewusst.
Sätze wie „Das ist dein Trigger, nicht mein Verhalten“ blenden diesen Zusammenhang aus – und verhindern persönliches wie gemeinsames Wachstum.
Gaslighting im Gewand von „Grenzen setzen“
Gaslighting beschreibt eine Form psychologischer Manipulation, bei der jemand die Wahrnehmung oder das emotionale Erleben einer anderen Person abwertet oder leugnet (Sweet, 2019; Dorpat, 1994).Wenn wir Verantwortung abwehren, indem wir sagen „Du bist einfach nur getriggert“, ist das eine subtile, aber reale Form von Gaslighting.Die unausgesprochene Botschaft lautet: „Deine Gefühle sind ungültig, und mein Verhalten ist entschuldigt.“
Gesunde Verantwortung bedeutet hingegen:
Den Einfluss des eigenen Verhaltens zu erkennen.
Die Gefühle anderer anzuerkennen, ohne ihre Themen zu übernehmen.
Die eigenen Muster zu reflektieren – nicht nur die Trigger anderer.
Gesunde Grenzen sind wichtig
Gesunde Grenzen schützen unsere emotionale Autonomie – ohne die Erfahrung anderer zu entwerten. Ein Beispiel:
Gesunde Grenze mit Verantwortungsbewusstsein:„Ich sehe, dass mein Verhalten dich verletzt hat. Ich möchte nicht, dass unser Gespräch so weitergeht. Lass uns kurz pausieren und dann respektvoll weitersprechen.“
Grenzen bedeuten, das eigene Verhalten zu regulieren – nicht, die eigene Wirkung abzustreiten.Sie schaffen einen Raum, in dem sich beide Seiten gehört, sicher und respektiert fühlen können – und in dem wir Verantwortung für unser Handeln übernehmen.So entsteht ein Gleichgewicht zwischen Selbstverantwortung und Beziehungsbewusstsein – ohne in Schuldzuweisungen oder Rechtfertigungen zu verfallen.
Wissenschaftlich fundierte Wege, Verantwortung zu übernehmen
Zu wissen, dass unser Verhalten andere beeinflusst, ist das eine – dieses Bewusstsein in gesundes Handeln zu übersetzen, das andere. Psychologie und Beratungsforschung zeigen evidenzbasierte Strategien, wie wir Verantwortung übernehmen können, ohne Grenzen zu überschreiten oder in Abwehr zu verfallen.
Diese Ansätze helfen uns, die eigenen Bedürfnisse zu wahren – und gleichzeitig achtsam mit der Wirkung auf andere umzugehen:
Übernimm Verantwortung für dein Handeln, nicht für die Entscheidungen anderer.Du kannst Menschen beeinflussen – aber du kontrollierst sie nicht.
Verwende wirkungsorientierte Sprache:„Als du X getan hast, habe ich Y gefühlt.“Diese Formulierung reduziert Abwehr und fördert Empathie (Gottman, 1999).
Trenne Trigger von Verantwortung:Unverarbeitete Traumata erklären Schmerzreaktionen, aber sie entschuldigen kein verletzendes Verhalten.
Achte auf Machtverhältnisse:Sicherheit, Abhängigkeit und emotionale Dynamiken sind entscheidend, um Schuldumkehr zu vermeiden.
Reflektiere regelmässig:Journaling oder angeleitete Selbstreflexion über den eigenen Anteil an Konflikten kann nachweislich helfen, wiederkehrende Muster zu verändern.
Fazit
Heilung geschieht nicht nur in uns, sondern auch zwischen uns. Unsere unverheilten Anteile wirken auf andere – so wie ihre auf uns. So zu tun, als hätte unser Verhalten keine Wirkung, ist keine Stärke, sondern Vermeidung.
Echte Verantwortung ist die Brücke zwischen innerer Arbeit und gesunden Beziehungen: Übernimm Verantwortung für dein Handeln, ehre die Gefühle anderer und reflektiere deine Muster.
„Deine Gefühle gehören dir.Aber die Art, wie ich dich behandle, kann sie entweder ehren oder verletzen.Für Letzteres trage ich Verantwortung.“
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