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Was bedeutet es eigentlich, „alles zu haben“?Wenn im Aussen alles perfekt scheint – und sich trotzdem etwas falsch anfühlt

Auch wenn selten offen darüber gesprochen wird – viele von uns kennen dieses Gefühl. Das Leben sieht gut aus, zumindest von aussen: stabiler Job, Partnerschaft, vielleicht sogar das Häuschen mit Garten. Und natürlich zwei Kinder – idealerweise ein Junge und ein Mädchen. Das perfekte kleine Leben. Oder?


Aber halten wir mal kurz inne und nehmen uns einen Moment, um dieses Idealbild genauer zu beleuchten.


Wir alle wachsen mit bestimmten Vorstellungen davon auf, wie ein gelungenes Leben aussehen sollte. Doch was, wenn diese Vorstellungen gar nicht so neutral sind, wie sie scheinen? Denn dieses vermeintliche Ideal, das noch immer als Inbegriff von Erfüllung gilt, ist tief verwoben mit überholten, heteronormativen und patriarchalen Vorstellungen. Besonders für Frauen bedeutet das bis heute: Mutterschaft, am besten im Rahmen der klassischen Kleinfamilie mit „idealer“ Geschlechterkonstellation, wird als natürlicher und selbstverständlicher Lebensweg angenommen.


Dabei geht es nicht darum, dieses Lebensmodell abzuwerten. Im Gegenteil: Wer genau diesen Weg wählt und sich darin wiederfindet, darf ihn selbstverständlich mit Erfüllung und Freude gehen. Das Problem liegt nicht in der Entscheidung selbst – sondern darin, dass gerade dieses Modell immer noch als das Ideal gilt. Als höchste Form von Glück, Erfüllung, Sinn. Und dass alles, was davon abweicht, oft als unvollständig, weniger wert oder nur als Zwischenstation gesehen wird.


Die eigentliche Herausforderung liegt darin, dass viele von uns so sehr damit beschäftigt sind, diesem Ideal zu entsprechen, dass sie kaum innehalten und fragen: Passt dieses Leben wirklich zu mir? Bedeutet es für mich wirklich Erfüllung – oder sieht es nur so aus? Denn vielleicht entspricht es auch nur einem Bild, das ich irgendwann übernommen habe – ohne es je zu hinterfragen?


Denn echte Erfüllung folgt keiner 0815 Norm. Sie fühlt sich auch nicht immer so an, wie es von aussen aussieht. Und für all jene, deren Wahrheit nicht in dieses enge Raster passt – sei es durch eigene Werte, Lebensumstände oder ihre Identität – kann dieses dominante Ideal tief verunsichernd, sogar entwertend wirken.


Du kannst ein Leben führen, das auf dem Papier perfekt erscheint – und trotzdem spüren, dass etwas fehlt. Dieses stille Unbehagen. Das leise „War das jetzt alles?“ Vielleicht fragst du dich, ob du undankbar bist. Oder ob mit dir etwas nicht stimmt. Lass dir sagen: Mit dir ist nichts falsch.


Was du spürst, ist keine Krise. Es ist ein Signal. Ein Hinweis darauf, dass dein äusseres Leben nicht mehr im Einklang mit deinem inneren Erleben steht. Und vielleicht ist genau das der Anfang von etwas Echtem.


Die Psychologie hinter dem Gefühl, „alles“ zu haben – und doch nicht erfüllt zu sein


Die Individualpsychologie, begründet von Alfred Adler und eine der drei klassischen tiefenpsychologischen Schulen, hilft uns dabei, das Warum unserer Lebensentscheidungen besser zu verstehen.


Laut Adler entwickelt jeder Mensch früh in der Kindheit seinen ganz eigenen Lebensstil – ein inneres Muster aus Überzeugungen, Zielen und Deutungen, das unser Verhalten und Erleben prägt. Dieser Lebensstil wird nicht bewusst gewählt, sondern entsteht aus unseren frühen Erfahrungen, unserer Wahrnehmung von Zugehörigkeit und der Art, wie wir uns selbst und die Welt sehen.


Ein zentraler Teil davon sind unsere Lebensstilmeinungen – innere Annahmen wie:


  • „Ein gutes Leben bedeutet, gebraucht zu werden.“

  • „Erfolg heisst: verheiratet sein und Kinder haben.“

  • „Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich etwas leiste.“


Diese Annahmen wirken häufig im Hintergrund weiter, selbst wenn sie längst nicht mehr zu unserem aktuellen Leben passen. So entsteht ein Spannungsfeld: Unser äusseres Leben ist „erfolgreich“, aber innerlich fühlen wir uns leer, fremdbestimmt oder erschöpft.


Was die Psychologie über ein erfülltes Leben sagt

Während die Individualpsychologie uns hilft, die Gründe hinter unseren inneren Überzeugungen zu verstehen, zeigt uns die Positive Psychologie, wie ein erfülltes Leben gelingen kann – konkret, alltagstauglich und wissenschaftlich fundiert.


Anstatt sich nur mit Symptomen oder Defiziten zu beschäftigen, richtet die Positive Psychologie den Blick auf das, was das Leben lebenswert macht.Was lässt Menschen aufblühen – emotional, sozial, psychisch?


Ein zentrales Modell ist das PERMA+V-Modell, entwickelt von Martin Seligman. Es beschreibt sechs zentrale Elemente, die laut Forschung zu echter Lebenszufriedenheit beitragen:


  • P – Positive Emotionen: Freude, Dankbarkeit, Hoffnung, kleine Momente des Glücks

  • E – Engagement: In etwas aufgehen, im „Flow“ sein

  • R – Beziehungen (Relationships): Tiefe, unterstützende Verbindungen, in denen man sich gesehen fühlt

  • M – Meaning (Sinn): Teil von etwas Grösserem sein, Zugehörigkeit und innere Ausrichtung

  • A – Accomplishment (Erfüllung durch Ziele): Eigene, sinnvolle Ziele verfolgen und erreichen

  • +V – Vitalität: Für den eigenen Körper und das Nervensystem sorgen – durch Schlaf, Bewegung, Pausen und Regeneration


Dieses Modell ist mit vielen weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden, etwa:


  • der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan), die Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit als psychologische Grundbedürfnisse beschreibt

  • Barbara Fredricksons Broaden-and-Build-Theorie, die zeigt, wie positive Emotionen langfristig Resilienz und Ressourcen aufbauen

  • der Forschung zu Flourishing vs. Languishing (Aufblühen vs. innerem Stillstand), die deutlich macht: Psychische Gesundheit ist mehr als das Fehlen von Krankheit – sie ist aktives Erleben und Gestalten


All das zeigt: Ein erfülltes Leben hat weniger mit gesellschaftlichen Normen zu tun – und mehr mit innerer Klarheit, echter Verbindung und dem Mut, den eigenen Weg zu gehen.

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Wenn Erfolg nicht gleich Erfüllung ist

Sich innerlich leer oder unverbunden zu fühlen, obwohl im Aussen alles „gut“ aussieht, ist kein Zeichen von Schwäche – sondern oft ein Ausdruck innerer Reife. Gerade bei Menschen, die nach aussen funktionieren, stark wirken und viel leisten, wird dieses innere Unwohlsein häufig übersehen. Doch psychologisch gesehen ist genau dieses Unbehagen ein wertvoller Hinweis:Etwas passt nicht mehr.Etwas in dir will gehört werden.


Dein kostenloses Mental-Wealth-Tool: Journaling als Alltagspraxis

Bei Well-being Rebel geht es nicht nur um Wissen – sondern um praktische Tools, die dich in deinem Alltag begleiten. Deshalb haben wir ein Reflexions-Tool für dich entwickelt: Ein Journaling-Impuls, der dir hilft, deine eigene Definition von „alles haben“ zu erkunden – jenseits von äusseren Erwartungen. Ob du regelmässig schreibst oder einfach mal reinfühlen willst – nimm dir 10–15 Minuten Zeit, schnapp dir ein Notizbuch (oder dein Handy) und finde heraus, was für dich zählt.

 

Reflexionsfragen: Was bedeutet „alles haben“ für DICH?


  • Was habe ich in meiner Kindheit oder Jugend darüber gelernt, was ein „erfolgreiches Leben“ ausmacht?

  • Welche dieser Überzeugungen fühlen sich heute noch stimmig an – und welche eher wie Erwartungen von aussen?

  • Wie erfüllt fühle ich mich in den sechs PERMA+V-Bereichen? Wo spüre ich Mangel, Sehnsucht, Energieverlust?

  • Wie würde mein persönliches „Alles“ aussehen, wenn ich es aus meinen Werten, meiner Energie und meinem Leben heraus definieren würde – und nicht aus gesellschaftlichen Erwartungen?


Diese Fragen sind kein Test – sondern ein Spiegel. Eine Einladung, dich selbst besser kennenzulernen, ohne Urteil. Du kannst sie regelmässig nutzen – einmal im Monat, wenn du dich überfordert fühlst, oder einfach als Reminder, dass deine innere Stimme zählt.


Redefinieren. Zurückerobern. Neu ausrichten.

Die alte Geschichte vom „alles haben“ – mit klaren Checklisten und perfekten Bildern – funktioniert für viele nicht mehr. Die Welt hat sich verändert, unsere Rollen haben sich verändert. Für manche haben die alten Rollen nie funktioniert. Aber das bedeutet nicht, dass du gescheitert bist. Es bedeutet, dass du wach wirst. Du musst dich nicht dafür schämen, dass du dir etwas anderes wünschst. Du musst dich nicht rechtfertigen für dein Bedürfnis nach Tiefe, nach Ruhe, nach einem Leben, das sich richtig anfühlt.


Wenn du dieses leise Ziehen spürst – unter der Oberfläche deines scheinbar perfekten Lebens – dann hör hin. Es ist kein Makel. Es ist dein Kompass. Deine Wahrheit. Deine Stärke. Denn echtes Wohlbefinden kommt nicht davon, alle Kästchen abzuhaken. Es entsteht, wenn wir beginnen, bessere Fragen zu stellen – und den Mut haben, auf die ehrlichen Antworten zu hören. Das ist mentaler Wohlstand in Aktion.

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